Maschinelles Dolmetschen: Grund zur Angst/ Chance, besser zu werden? Eine Rezension

Maschinelles Dolmetschen: Grund zur Angst/ Chance, besser zu werden? Eine Rezension

Eine Fotografie des Buches "Interpreters vs. Machines" von Jonathan Downie zum Thema maschinelles Dolmetschen

Interpreters vs Machines. Ein Buch mit einem solchen Titel kann gar nicht anders, als spannend zu sein. Wenn es dazu auch noch wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und praktische Empfehlungen für den Berufsalltag liefert, bleibt für Leser*innen kaum noch ein Wunsch übrig. Daher habe ich mich sehr gefreut, das dieses Jahr im Routledge Verlag erschienene Buch von Jonathan Downie im Laufe des Sommers zu lesen und es auf diesem Blog zu rezensieren. Besonders froh bin ich auch darüber, dass der Data Scientist Felix Bracharz bei dieser Rezension mitgewirkt hat. Er hat die technischen Angaben überprüft und einen Abschnitt mit seiner Einschätzung zum Thema maschinelles Dolmetschen beigesteuert, der im nachfolgenden Text kursiv markiert ist.

Interpreters vs Machines behandelt ein Thema, das 2020 durch den triumphalen Zug des Remote Interpreting etwas in den Hintergrund getreten ist, langfristig aber noch entscheidender als dieses werden dürfte: Die im Untertitel etwas provokant formulierte Frage Can Interpreters Survive in an AI-Dominated World?

Künstliche Intelligenz (KI, Englisch AI) ist überall. Als Dolmetscher*innen kommen wir mit ihr längst nicht nur privat in Kontakt: CAI (Computer-Assisted Interpreting)-Tools helfen uns bei der Auftragsvorbereitung, unsere Kunden führen in ihren Firmen Programme zur Nutzung von Big Data ein, und jede* in der Industrie tätige* Dolmetscher*in hat bereits Vorstellungen von teilautonomen Automodellen, Maschinen und Technologien gedolmetscht.

Das ist die eine Seite der Medaille: KI als eine hilfreiche, wenn auch manchmal etwas unheimlich wirkende Technologie. Auf der anderen Seite steht eine künstliche Intelligenz, die, wenn man ihren Entwicklern glaubt, in einer nicht allzu ferner Zukunft mächtig genug werden könnte, menschliche Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen zu ersetzten. Auf der großen BDÜ-Konferenz Übersetzen und Dolmetschen 4.0. Neue Wege im digitalen Zeitalter, die im Herbst 2019 in Bonn stattfand, war Machine Translation eins der Hauptthemen. Sie ist mittlerweile fester Bestandteil des Berufsalltags von mir persönlich bekannten Übersetzer*innen. Immer häufiger werden sie nicht mit dem Übersetzen von Texten, sondern dem Post Editing, d.h. dem Nacheditieren maschinell übersetzter Texte beauftragt.

Wir Dolmetscher*innen sind noch viel weniger betroffen. Doch das maschinelle Lernen entwickelt sich so rasant, dass der Markteinzug der ersten konkurrenzfähigen Lösungen zum „maschinellen Dolmetschen“ vermutlich eher eine Frage des Wann als des Ob ist. Wir sollten uns bereits jetzt Gedanken über eine Zukunft des Dolmetschens unter diesem neuen Vorzeichen machen und unsere eigene Berufspraxis ggf. entsprechend anpassen.

Kommunizieren statt bloß übertragen

Jonathan Downie ist organisierender Dolmetscher mit Sitz in Edinburgh und hat im Bereich der Translationswissenschaft promoviert. Dieses Zusammenspiel an praktischer und theoretischer Erfahrung wird in seinem Buch sichtbar. Dieses basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, untermauert sie aber mit unterhaltsamen Beispielen und entwirft vier fiktive Szenarien, die verschiedene Varianten einer Zukunft mit maschinellem Dolmetschen darstellen. So handelt es sich am Ende eher um einen populärwissenschaftlichen Text. Der Autor vergleicht ihn mit einem Computerspiel: Im ersten Teil werden theoretische Grundlagen vorgestellt und im zweiten, darauf basierenden, die erwähnten Szenarien „durchgespielt“. So sollen Leser*innen mit verschiedener Berufserfahrung ihr Wissen nach und nach aufbauen und über die eigene Praxis reflektieren.

Das Buch beginnt mit der Vorstellung des herkömmlichen, also menschengemachten, Dolmetschens. Traditionell seien Dolmetscher*innen für eine absolute Objektivität, Parteilosigkeit und Genauigkeit ausgebildet worden und haben nach außen hin vor allem diese Aspekte betont. Ein*e gute* Dolmetscher*in habe wie ein Kanal sein sollen, durch das die Originalaussage hindurchfließt, dabei lediglich die Sprache wechselt und mit unveränderter Wirkung auf die Zuhörer*innen trifft. In dieser Auffassung geschehe das Dolmetschen primär zwischen Sprachen, nicht zwischen Menschen (S.8). Zurecht bemerkt der Autor: In this model, the principal point at which something can go wrong is with the interpreter (S.7) Ob verschuldet (durch schlechte Vorbereitung oder Parteilichkeit) oder nicht (durch eine schlechte Tonqualität) – die einzige Verantwortung liege bei dem/der Dolmetscher*in, dem „Kanal“. Wenn die Ethik beim Dolmetschen lediglich dem Prinzip folge, möglichst das zu wiederholen, was gesagt wurde, schließe sie sehr viele menschliche Nuancen aus, die in jeder Kommunikationssituation vorkämen (dazu unten mehr.) Sie werde schwarz-weiß. Denke man dieses Modell zu Ende, spreche auch tatsächlich nichts dagegen, eine rein auf möglichst genauer Wiedergabe basierende Dolmetscharbeit irgendwann von Maschinen übernehmen zu lassen.

Diesem conduit model stellt Jonathan Downie das triadic model gegenüber. Wie der Name nahelegt, bilden darin die Redner*in, Zuhörer*in und Dolmetscher*in die Ecken eines Dreiecks. Hier wird Dolmetschen als „Mannschaftssport“ angesehen, in dem alle Seiten zusammenarbeiten, um eine Verständigung herzustellen. Dieses Modell gebe die tatsächliche Dolmetschsituation viel realistischer wieder. Das bedeute wohlbemerkt nicht, dass Dolmetscher*innen in den Mittelpunkt rücken sollen. Auch in diesem Modell werden sie nicht zu Stars der jeweiligen Kommunikationssituation. Sie tun aber trotzdem viel mehr, als einfach nur ein Sprachkanal zu sein. Untersuchungen ab den 1990er Jahren (S. 25 ff.) zeigen, dass Dolmetscher*innen nicht einfach wie perfekte Maschinen die Bedeutung einer Aussage entziffern und in eine andere Sprache übertragen, sondern oftmals eine Mediator*innenrolle annehmen, Gesagtes bei Bedarf erklären, mit den anderen Teilnehmer*innen gemeinsam nach Bedeutung suchen, die Redner*innen beraten und ihre Sprache sehr fein differenzieren, je nachdem, ob sie ein nichtverbales Signal verständlich machen oder sich durch den Gebrauch der 3. Person Singular vom Gesagten distanzieren wollen. Eine Kernaussage des Buches ist, dass dies nicht nur, wie man im ersten Instinkt denken könnte, auf Situationen im Bereich des Community- oder Dialog-Dolmetschens zutrifft, sondern ebenfalls auf das Konferenzdolmetschen. Die verschiedenen Arten des Dolmetschens zeigen auf der kognitiven und auch sozialen Ebene mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede:

„In the conduit model, interpreters process language; in the triadic model, they work together with others to make meaning. In the conduit model, interpreters are equipment; in the triadic model, they are partners and participants” (S.15)

Mensch versus Maschine

Wie schneiden im Vergleich zu den Menschen nun also die Maschinen ab? Sehr schnell verwirft der Autor den herkömmlichen Begriff machine interpreting zugunsten von speech translation (S. 38). Dieser veranschaulicht auf eine etwas aufrüttelnde Art und Weise, was das maschinelle Dolmetschen tatsächlich sei – nämlich nichts anderes als eine Verbindung eines maschinellen Übersetzungssystems mit einem Stimmgenerator. Anders als ein*e menschliche* Dolmetscher*in könne der Algorithmus nicht in einem einzigen komplexen Arbeitsschritt Gehörtes analysieren, verstehen und unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes in die andere Sprache übertragen. Er könne nur, vereinfacht ausgedrückt, Texte transkribieren, übersetzen und vorlesen. Zweifellos liefert die neueste Generation des maschinellen Übersetzens, die Neuronal Machine Translation (NMT), erstaunliche Ergebnisse. Da sie auf maschinellem Lernen basiert, kann sie sich selbst weiterentwickeln, neue Sprechmuster erkennen und mit der Zeit immer präziser und „natürlicher“ werden (S. 46 f). Aber in einem unterscheiden sich maschinelle Dolmetscher von den menschlichen: Sie können lediglich sprachlichen Input analysieren. Unfähig, den sozialen Kontext oder die Intention der Sprecher*in zu erkennen, arbeiten sie nach einem Model, das für reelle Dolmetschsituationen nachgewiesenermaßen nicht ausreichend sei: dem conduit model (S.47)!

Um angelernt zu werden, müssen Werkzeuge zur maschinellen Übersetzung einschätzen, wie „weit weg“ ein maschineller Übersetzungsentwurf von einer Referenzübersetzung eines Menschen entfernt ist. Hier beginnen bereits die Probleme. Der de facto-Standard hierfür ist der BLEU , aber selbst wenn die Referenzübersetzung perfekt ist, ist nicht gesagt, dass ein höherer BLEU tatsächlich eine bessere Übersetzung bedeutet. Man kann sich dann ein solches Modell als eine Art Interpolationsmaschine vorstellen: Es kann nur das übersetzen, was es genau so oder so ähnlich schon einmal gesehen hat. Zwar werden Sprachmodelle auf sehr großen Datensätzen trainiert, aber es wäre unklar, wie gut sie sich die Inhalte auf eine spezielle Dolmetschsituation übertragen lassen.

Natürlich gibt es Unterschiede in der Komplexität eines Gespräches: Ein „Gesprächsraum“, innerhalb dessen sich ein wirtschaftliches oder politisches Gespräch abspielt, ist wesentlich grösser als jener einer Pizzabestellung. Für eine breite Masse an Nutzern, die damit leben kann, wenn sie fälschlicherweise Ananas auf ihre Schinkenpizza bekommen, werden Maschinendolmetscher sehr wahrscheinlich innerhalb der nächsten Jahre verfügbar werden. Für professionelle Anwendungen wird möglicherweise die Herausforderung darin bestehen, Kunden von dem Qualitätsunterschied zwischen einer menschlichen und einer maschinellen Verdolmetschung zu überzeugen. Nur weil aus einem machine interpreter Fremdworte kommen, die vielleicht auch oftmals einzeln richtig sein mögen, muss die gesamte Verdolmetschung noch lange nicht gut sein.

Eins können Anbieter des Maschinellen Dolmetschens aber exzellent: ihre Produkte vermarkten. Sie zeichnen dabei eine für Dolmetscher*innen befremdliche Vision der Welt. Darin seien sprachliche Unterschiede ein Problem, das es um jeden Preis zu bewältigen gelte, am besten natürlich mit technischen Lösungen.

Diese Vorstellung gehe am tatsächlichen Problem vorbei: Jede*r, der schon einmal eine Fremdsprache gelernt hat, weiß, dass es keine „sprachlichen Unterschiede“ ohne den dazugehörigen kulturellen Hintergrund gibt. In einer Kommunikationssituation kommt es wie oben gezeigt vielmehr darauf an, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten und der Gesamtkontext für alle verständlich ist, als auf eine perfekte Übertragung von Phrasen. Kein*e professionelle* Dolmetscher*in würde je auf die Idee kommen, die Jonathan Downie in Anknüpfung auf die Werbekampagnen für einige bereits existierende speech translation-Lösungen beschreibt:

“If I could only learn to ask for kisses in Japanese, I could get some, one might think, but that ignores the fact that in some cultures simply making the request in public to someone you have never met is hardly likely to be a successful tactic, no matter how good your device is” (S. 63)

Selbst wenn die Produkte, wie Marketingslogans versprechen, über 90% der gesagten Worte erkennen können, bestehen Sprachen aus so viel mehr als bloßen Wörtern (S.67) – und die Kommunikation bestehe nicht nur aus Sprachen. Während die Werbung für speech translation (noch?) nicht reguliert sei und daher alles Mögliche versprechen könne, deuten eigene Aussagen der Hersteller und Schwierigkeiten dabei, objektive Qualitätskriterien für maschinelles Dolmetschen zu definieren, darauf hin, dass das tatsächliche Produkt bis jetzt eher eine Behelfslösung sei – eine high-tech-Version traditioneller Sprachführer, zweifellos für sehr viele Situationen ausreichend, aber eben keine Konkurrenz zu einer professionellen menschlichen Dolmetscher*in.

Immer besser statt weiter so

Im zweiten Teil stellt das Buch vier Beispielszenarien für eine Zukunft, in der menschliche Dolmetscher*innen und maschinelles Dolmetschen koexistieren, vor. Angefangen bei einem Orwellschen Alptraum, in dem Menschen völlig überflüssig geworden sind, da alle sprachlichen Äußerungen eng standarisiert und an eine vorhandene Datenbank angepasst sein müssen; über Szenarien, in denen der oft geforderte Schutz der Berufsbezeichnung zu einem dystopischen Ergebnis führt oder Dolmetscher*innen sich, wie ebenfalls oft empfohlen, an Marktnischen anpassen und trotzdem am Ende nur zu Gehilfen der Maschinen werden.

Das vierte Szenario schließlich ist das erklärte Ziel. Nicht nur haben darin menschliche Dolmetscher*innen die unangefochtene Hoheit über ihr Gebiet beibehalten – sie haben diese ausgeweitet, sodass die menschliche Leistung gegenüber der maschinellen Translation als Goldstandard gilt. Dolmetscher*innen ist der Wechsel from expensive necessity to valuable partner (S. 117) gelungen. Sie bieten ihren Kund*innen mehr als nur Worte – sondern sie sind auch rhetorisch exzellent, bringen alle Zuhörer*innen auf den gleichen Wissensstand, helfen, die Chancen ihrer unterprivilegierten Kund*innen anzugleichen und Konferenzredner*innen in allen Sprachen genauso lebhaft und überzeugend wirken zu lassen. Indem sie ein an das triadische Modell angelehntes Marketing mit intensiven Kundenbeziehungen, einer genauesten Vorbereitung auf jeden Einsatz und einer ständigen beruflichen Weiterentwicklung – auch durch Üben und Coaching! – verbinden, sind sie auch der besten KI immer um Längen voraus.

Quo vadis, Dolmetscher?

Ich kenne keine anderen Bücher, die das hochaktuelle Thema KI im Dolmetschen so einzigartig behandeln wie Interpreters vs Machines. Es ist eine kleine, schnell durchgelesene und dabei sehr unterhaltsame Schatztruhe an wichtigen Informationen. Die Einzigartigkeit des Buches liegt nicht nur in seinem zum Teil narrativen Charakter, sondern auch oder vor allem darin, dass es Sachverhalte, die allen Dolmetscher*innen mehr oder weniger bewusst bekannt sind, einfach erklärt, praktisch untermauert und die Zusammenhänge dazwischen neu beleuchtet. Die Hauptthesen des Buches: Das Dolmetschen läuft triadisch ab, ein kommunikationsbezogenes Marketing und berufliche Exzellenz sind überlebenswichtig – werden konsistent und überzeugend dargelegt, mit klaren Schritten, um eine gute Zukunft für Konferenzdolmetscher*innen zu sichern.

Vermisst habe ich in dem Buch mehr technische Informationen zu maschinellem Dolmetschen. Einem Gegner, den man besser versteht, kann man viel einfacher die Stirn bieten – leider finden sich in Interpreters vs. Machines mehr Angaben darüber, wie Lösungen im Bereich Maschine Interpreting vermarktet werden, als zu deren technischer Beschaffenheit. Auch über positive Möglichkeiten, wie Menschen mit Maschinen zusammenarbeiten können, hätte ich gerne mehr erfahren. Vielleicht können wir Dolmetscher*innen die Vorteile des Maschinellen Dolmetschens nutzen, um unseren Kunden ganz neuartige Lösungen zu bieten – wie zum Beispiel Datenbanken, die mit der eigener Stimme und dem eigenen Wortschatz trainiert werden und potenziell einen Teil unserer Arbeit übernehmen können. Übersetzungsbüros trainieren schon zum Teil ihre eigenen Algorithmen, wie ich bei der oben erwähnten BDÜ-Konferenz erfahren habe.

Aber auch weitere Vorschläge, wie man bei Bedarf einen Kampf gegen immer besser werdende Maschinen gewinnt, wären sehr willkommen gewesen. Die eigene Arbeitsweise zu kennen und nach außen richtig darzustellen, löst möglicherweise nicht alle Probleme. Wie können wir uns für die Zukunft wappnen, falls es uns nicht gelingt, alleine mit PR und beruflicher Weiterentwicklung die Überhand gegenüber der Maschinellen Verdolmetschung zu gewinnen? Gerne hätte ich mir auch dafür ein beispielhaftes Szenario gewünscht.

Insgesamt ist Interpreters vs Machines eine wertvolle, lesenswerte Einführung in das Thema maschinelles Dolmetschen. Ich bin mir sicher, dass Dolmetscher*innen aller Erfahrungsstufen dem Buch Neues entnehmen können: Studierende oder Berufsanfänger*innen werden so an das Thema herangeführt und dabei unterstützt, eine eigene robuste Berufspraxis für die nächsten Jahrzehnte aufzubauen. Erfahrene Dolmetscher*innen erhalten eine Gelegenheit, um über die eigene Arbeitsweise und Außendarstellung nachzudenken und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. Ein wichtiges Buch, dem hoffentlich weitere folgen werden!

 

Magda Dziabala

Konferenzdolmetscherin für Polnisch, Deutsch und Englisch. Mit viel Wissensdurst, einem Hang zum Perfektionismus und einer Freude daran, sich an immer neuen Orten immer neuen fachlichen und sprachlichen Herausforderungen zu stellen.

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